Laudatio von Juliana Hellmundt, 04. März 2018

Lieber Eberhard Hartwig, sehr geehrter Herr Pyritz, liebe Gäste,

 

Zuerst möchte ich mich für die Einladung des Berliner Malers und Graphikers Eberhard Hartwig mit seiner Ausstellung Skriptuale Malerei und Grafik herzlich bedanken.

Als ich mich mit dem Thema der Ausstellung beschäftig habe, hatte ich das Gefühl, dass ich mich auf einer Weltreise befinde. Ich möchte sie Ihnen beschreiben. Auf dieser Reise kamen immer mehr Fragen und immer mehr Gedanken auf und die größte Frage, bevor ich den Text verfasst habe war: wo fange ich eigentlich an?

Ob durch Keilschriften, Hieroglyphen, Buchstaben oder Chinesische Kalligrafie oder aber Sprachnotizen, Tagebücher, Plakate, Lehrbücher, oder Briefe und Notizen: seit mehr als 6000 Jahren zeichnet der Mensch sein Wissen auf, kommuniziert, archiviert, oder hält es auch als Schriften geheim.

Mit der Erfindung der Schrift fing der größte kulturelle Umbruch der Menschheitsgeschichte an. Mit der Sprache wachsen wir in unsere Kultur hinein, gelangen zu neuem Wissen und lernen unsere Werte kennen, wir finden Zusammenhänge und schaffen durch die persönliche Interpretation und durch fachliche Auslegung in der Welt des Gelesenen einen kulturellen Sinn zu erkennen.

Ausgangspunkt dieser Einsicht gegenüber der Schrift ist die Tatsache, dass unsere Kultur aus einem System von Zeichen besteht – als ein beständiger und geordneter Verbindungsweg zwischen dem Verfasser mit seinen Erfahrungen und dem Leser mit seinen Bedürfnissen nach Wissen.

Im heutigen digitalen Zeitalter wird die Schrift beziehungsweise das Wort in Datenbanken aufbewahrt, die nach bestimmten Kriterien bearbeitet und abgefragt werden. Wir stellen uns berechtigte Fragen nach der Standardisierung und Entindividualisierung des Menschen in Verbindung mit der Digitalisierung unserer Daten.

Eberhard Hartwig präsentiert in den Räumen des Museums eine Installation, welche aus diversen Schriftbahnen mit horizontal verfassten Strichzeichen entsteht, die auf einem Malgrund mit Tusche aufgetragen sind und die Struktur antiker Papyrus- und Pergament-Schriftrollen ins Gedächtnis rufen möchten. Der Text besteht aus rhythmisch verlaufenden Schriftzeichen. Die gleichmäßigen unterstrichenen Reihen einer undefinierbaren Sprache rücken das Lesen und Verstehen erstmal in den Hintergrund.

Die 325 cm hohen und 133 cm breiten Schriftblätter mit dem Titel „Briefe“ bilden zusammen einen begehbaren Raum der Betrachtung. Der zugängliche Raum innerhalb des Raumes fördert die Teilnahme des Betrachters, in dem man durch den veränderten Raum in die Welt des Geschehens „geschleust“ wird. Das partizipative Element der Installation entsteht zuerst dadurch, dass ein Gefühl des Betretens in einen Raum entsteht, wo der „Besucher“ aus der Realität des umgebenden Raumes der Galerie isoliert wird. Andererseits verwandelt sich im Moment der Verzauberung dieser Raum in eine theatralisch und affektiert wirkende Umgebung des Unbekannten.

Die künstlerische Aussage wird durch rätselhaftes Suchen abgefragt um die Schriftzeichen zu entschlüsseln.

In seiner Installation eröffnet sich der Raum wie eine außergewöhnliche Szenerie, die den Eindruck vermittelt, man befände sich in einer Reihe von Ereignissen, oder man stünde wie vor einer geheimnisvollen Weltkarte der Kulturgeschichte.

Nun, es war einmal in Bagdad…. als nämlich im Jahr 825 die bekannte Bibliothek „Haus der Weisheit“ gegründet wurde. Sie zog Forscher aus dem ganzen Land an, unabhängig davon, welcher Nationalität die Forscher angehörten, oder ob sie Muslime, Christen, oder Juden waren. Sie beschäftigten sich nicht nur mit der Übersetzung der Schriften des antiken Griechenland, sondern auch mit eigenen neuen wissenschaftlichen Entdeckungen.

Zu den bekanntesten Wissenschaftlern der Bibliothek gehörte Ibn Sina, oder auf Latein als Avicenna mehr bekannt (980–1037). Er schrieb mehr als 400 Bücher und Aufsätze zu Physik, Medizin und Mathematik. Sein Kanon der Medizin, der im 12. Jh. ins Lateinische übersetzt wurde, war auch in Europa über sechs Jahrhunderte das Lehrbuch der Mediziner. Nach dem Vorbild dieser Institution wurden später ähnliche Einrichtungen in Nordafrika und Spanien geschaffen.

All dieses Wissen fand über Spanien seinen Weg nach Europa. Dann begann erneut eine Periode intensiver Übersetzungen. Nicht lange danach endete die Erfolgsgeschichte der arabischen Wissenschaft in Bagdad, wo alles angefangen hatte. Die Angriffe der Mongolen im 13. Jahrhundert hatten eine verheerende Zerstörung Bagdads und der Bestände der berühmten Bibliothek „Haus der Weisheit“ zur Folge.

Mit der Anspielung auf die arabische Schrift entführt Eberhard Hartwig den Betrachter wie in einem Märchen aus dem Abendland und lädt uns ein, durch die Geschichte des Wissenstransfers mitzureisen – von Bagdad über Nordafrika und über Spanien nach Europa, auf einen Weg, der mehrere Jahrhunderte gedauert hat. Dabei wechselten die Texte der mehrfach übersetzten Bücher vielmals ihre Sprache und die Schrift. Der Künstler lädt uns ein zu betrachten und die Spannbreite des Dialogs zwischen Wort und Bild zu entdecken.

Beim Gespräch mit Eberhard Hartwig in seinem Atelier hat er mich auch auf die Japanische Schrift aufmerksam gemacht.

Die Textform in der asiatischen Kultur hat eine lange Tradition: die Kalligrafie ist eine hochgeschätzte Kunst, in welcher Tusche, aber auch Aquarellfarben und farbige Tinte eingesetzt werden. Es ist nicht zu übersehen, dass der Künstler diese Bildsprache hervorgehoben hat, weder ist aber die präzise Nachahmung bestimmter Schriftzeichen – weder die Kandji, noch die Harigana – hier deutlich zu erkennen, noch ist die Schreibweise von rechts nach links eindeutig festzustellen. Er lässt die Schrift fließen und lässt den Betrachter weiter rätseln.

Das japanische Wort „Shodo“ wird mit „Weg des Schreibens“ übersetzt. Wie lange das chinesische Schriftsystem seinerseits bereits bestanden hatte, ist nicht belegt. Die ältesten bislang gefundenen Zeichen stammen aus der Zeit um 1400 vor Christus.

Es waren die japanischen Dichter, die im 7. und 8. Jahrhundert aus künstlerischen Beweggründen damit anfingen, die chinesischen Schriftzeichen nur als Lautzeichen zu verwenden und führten Hiragana und Katagana als reformierte Schrift ein.

Eberhard Hartwig hat die Gestik der Hiragana improvisierend nachgeahmt und stellt mittels eines feinsinnigen Ergebnisses in harmonischen Reihen „den Weg des Schreibens“ vor.

Die Dominanz der Interpretation des Textes in seiner Installation bekommt hier eine bezeichnende Rolle, in der die Kraft der Bildlichkeit durch „neutrale Zeichen“ die Grenzen der Sprache durchbricht. Die Installation als Werk verwandelt die Betrachtungsweise, wir sehen die Schrift nicht als Dokument, sondern als Monument und die Schriftzeichen treten wie Symbole in ein sehr spannendes Ensemble. Ich komme auf den Titel „Briefe“ zurück und wage zu vermuten, dass wir vor einem Ensemble inne halten und wie vor Zeugnissen menschlicher Beziehungen einem Hauch Voyeurismus gegenüberstehen.

Geöffnete Briefe, geheime Schrift in geordneten Reihen, Spurensuche und Deutungsansätze: das Archiv mit akkurat gepflegten Reihen und vergilbten Ordnern, makellos gepflegt, sortiert und erfasst, die Welt der Geheimnisse, das Arbeitsgebiet des Suchens. Für Eberhard Hartwig stellt dieser Zustand eine besondere Herausforderung dar, die sich mit dem Thema Macht auseinandersetzt. Wissen ist Macht und das Aufbewahren von Wissen und Geheimnissen gilt als „zentrales Kapital politischer und ökonomischer Macht“.

Hier liegt die größte Originalität der Installation von Eberhard Hartwig: die dargestellten Grenzen zwischen den verschiedenen Kulturen und Epochen, zwischen der künstlerischen, der philosophischen und der geheimen Sprache. Anderseits schaffen es diese imaginären Grenzen, eine fließende Ähnlichkeit zwischen den Epochen und Kulturen wiederherzustellen. In der raffinierten Reihenfolge von Beispielen der Schrift und der Sprache, die über Jahrtausende mehrfache Wechselverhältnisse erfuhr, variieren Elemente der profanen Ikonographie.

Eberhard Hartwig wurde 1957 in Berlin geboren und erhielt seine Erfahrungen mit der Schrift bei der Lehre und der Arbeit als Schriftsetzer und Drucker zwischen 1974 und 1993.

Einen zentralen Platz seiner Installation hat die 60 cm hohe Skulptur aus Porenbeton mit dem Titel „Torso“ erhalten. In die geschwungene abstrakte Form des plastischen Kunstwerks ist eine flache Vertiefung eingearbeitet, in die mehrere Schriftreihen eingemeißelt sind. Als Torso wird (normalerweise) eine figurative Statue bezeichnet, die wegen Zerstörung ohne Gliedmaßen zu sehen ist, also eine verstümmelte Darstellung einer Statue, und so einfach als Teil eines Ganzen zu verstehen ist. Im Kontrast mit den gleichmäßig verlaufenden Reihen der umgebenden Schriftbahnen wirkt die Skulptur etwas fragil.

Das Texttorso erinnert an die Keilschrift, die Schrift der Babylonier und Sumerer. Die ältesten erhaltenen Texte in Keilschrift stammen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Als Schriftsetzer lernte Eberhard Hartwig das Handwerk des Buchdrucks und mit diesem Texttorso arrangiert er auf eine stillvolle Weise im Zentrum seiner Installation eine wunderbare Hommage an das Urbild der Schriftsetzung.

Eberhard Hartwig machte eine Ausbildung als Graphiker und gründete 1990 seine eigene Druckwerkstatt für Lithographie, Radierung und Hochdruck in Berlin. Er präsentiert hier in den Räumen des Museums auch einige seiner graphischen Arbeiten in Carborundumdruck und Aquatinta.

In seiner graphischen Arbeit dominieren abstrakte Bildmotive, die durch klare Linien und Formen bestehen und bewusst zwischen Leere und Fülle agieren. Die in seiner Malerei kennzeichnende Methodik des Künstlers ist deutlich zu erkennen: seine künstlerische Aussage provoziert, erfragt und fordert ermutigend den Betrachter auf, in einem zeitlosem Raum eigene Interpretationen wahrzunehmen, die sich bis zur Unendlichkeit fortsetzen können.

Die Skripturale Malerei in Hartwigs Installation ist ein Objekt, dessen Bedeutung aus der besonderen dreidimensionalen Konstruktion, zusammen mit anderen Mitteln der bildenden Kunst, erweitert wird. Als Text-Objekt stellt die Installation die Ehrlichkeit eines offenes Buchs dar. Das große Format der Schriftblätter erlaubt dem Künstler, bei der Arbeit frei mit dem ganzen Körper zu agieren, und dem Betrachter die improvisierte Sprache der visuellen Poesie vollkommen aufzunehmen.

Und nun wünsche ich Ihnen und Euch, liebe Gäste viel Vergnügen und viele Anregungen für interessante Gespräche miteinander und mit dem Künstler. Lieber Eberhard, Dir wünsche ich weiterhin viel Erfolg und noch mal herzlichen Dank!

Juliana Hellmundt, 28.02.2018